
Entscheidend, ob ein Patient mit Alpha-1-Antitrypsin-Mangel eine Leberzirrhose entwickelt, ist die Form der kumulierten Alpha-1-Protreinaggregate in den Leberzellen.
Der Proteinasen-Inhibitor Alpha-1-Antitrypsin wird zwar in der Leber gebildet, wirkt aber in der Lunge. Dort hat er die Aufgabe, die Produktion von Immunzellen zu regulieren. Besteht ein genetisch bedingter Alpha-1-Antitrypsin-Mangel können sich die Alpha-1-Proteine nicht korrekt falten; die Leber produziert dann zu wenig Alpha-1 – und somit erreichen auch zu wenige Enzymhemmer die Lunge.
Die heterozygote Form des Alpha-1-Antitrypsin-Mangels, bei der nur ein Elternteil den Gendefekt weitergibt, hat in Europa 1 von 20 Personen. Viele merken oft ihr ganzes Leben lang nichts davon oder werden nur leicht krank. Gefährlicher ist die seltenere homozygote Form, von der 1 von 2000 Personen betroffen ist. Nicht nur die Wahrscheinlichkeit einer Erkrankung ist hier sehr viel höher, die Erkrankungen sind auch schwerwiegender – wobei nicht nur die Lunge etwa in Form einer chronisch obstruktiven Lungenerkrankung (COPD) betroffen sein kann, sondern auch die Leber selbst: Die Menschen entwickeln dann zum Beispiel eine schwere Leberfibrose oder Tumore.
Gleiche Mutation, unterschiedliche Krankheitsverläufe
Zur homozygoten Form des Gendefekts hat eine internationale Studie nun neue wichtige Erkenntnisse hervorgebracht. Erstautor Florian Rosenberger, Martinsried, erklärt, worum es geht: „Bei der homozygoten Form ist eine Sache auffällig. Da es sich um eine monogenetische Erkrankung handelt und alle Patienten die gleiche Mutation haben, müsste es theoretisch immer die gleichen Krankheitsverläufe geben. Das ist aber nicht der Fall: Ein Drittel der homozygoten Patienten entwickelt eine schwere Leberfibrose. Zwei Drittel bleiben dagegen gesund. Wir wollten herausfinden, was dahintersteckt und welche molekularen Mechanismen bestimmen, dass einige Menschen mit homozygotem Alpha-1-Mangel gesund bleiben und andere nicht.“
Um diese Frage zu klären, nutzen die Forscher Deep Visual Proteomics – ein Verfahren, das mithilfe von Proteomanalysen die tiefliegenden Ursachen von Erkrankungen aufzuspüren kann. Grundlage der Alpha-1-Studie waren die Lebergewebeproben von deutschen und dänischen Leberfibrose-Patienten (n=34). Trotz der gleichen zugrunde liegenden krankheitsverursachenden Mutation bei ähnlichem Medianalter (58 ± 10 Jahre) und Body-Mass-Index (25,2 ± 4,0) variierten die Fibrosestadien drastisch, was auf unerforschte molekulare Resilienz- oder Risikoprofile hinweist.
Rosenberger weiter: „Wir haben uns Proben über das komplette Krankheitsspektrum hinweg angeschaut. In den frühen Stadien – also dann, wenn die Erkrankung noch nicht klinisch auffällig ist – konnten wir sehen, wie es dem Körper gelingt, die beginnende Krankheit doch noch aufzuhalten.“ Für die Bildanalyse der Mikroskopieaufnahmen nutzte das Forscherteam ein spezielles künstliches neuronales Netz, ein sogenanntes Convolutional Neural Network (CNN). Es war vorher darauf trainiert worden, menschliche Gesichter und Alltagsgegenstände zu erkennen.
Auf die Feinheiten kommt es an
Auch bei menschlichen Leberzellen war das CNN in der Lage, unterschiedliche äußerliche Merkmale der Erkrankung in der Zelle auseinanderzuhalten. Konkret ging es um Anhäufungen des Alpha-1-Proteins in den Hepatozyten, eine Folge des Krankheitsausbruchs. „Unser CNN konnte feinste Unterschiede in den Morphologien dieser Aggregate erkennen“, so Rosenberger. Am auffälligsten waren 2 Erscheinungsformen: krümelförmige Aggregate mit einer eher rauen amorphen Struktur und ballförmige Aggregate mit einer definierteren Struktur.
Die Frage lautete: Was unterscheidet die Zellen in diesen beiden Zuständen? Sind die unterschiedlichen Formen Zufall oder steckt ein Mechanismus dahinter?
Hier gelang dem Forscherteam ein Durchbruch. Es konnte die molekularen Ereignisse – die Bildung der Proteinkrümel oder -bälle sowie die Übergangsphasen vom einen zum anderen – in die richtige zeitliche Abfolge bringen und so den unterschiedlichen Formen der Aggregate eine Rolle zuordnen. Die krümelförmige Morphologie ist demnach eine sehr frühe Gegenreaktion der gestressten Zelle auf die Erkrankung, sichtbar in speziellen Zellorganellen, den Peroxisomen. Die ballförmige Morphologie tritt dagegen später auf, wenn die Leberfibrose schon weit fortgeschritten ist – korrelliert aber offensichtlich nicht mit der Schwere der Erkrankung. Denn auch bei niedriggradigen Fibrosen fanden sich die ballförmigen Aggregate.
„Die Veränderung vom Krümel zum Ball ist ein Kernpunkt der Studie. Sie zeigt, welche kompensatorischen Mechanismen in den Leberzellen in welcher Reihenfolge ablaufen. Wie die Zellen versuchen, die Aggregatbildung und damit die Leberfibrose zu bekämpfen“, so Rosenberger.
Auf dem Weg zur klinischen Anwendung
Die Ergebnisse der Studie könnten schon bald klinische Relevanz erlangen. „Bei der Auswertung der Krankengeschichten haben wir festgestellt, dass bei Personen mit schwerer Fibrose die frühe peroxisomale Reaktion fehlt“, erklärt Rosenberger. „Wir wissen jetzt, dass diese Reaktion schützend wirkt. Unser Ziel ist es, ein Frühwarnsystem für Leberfibrose zu entwickeln – eine Möglichkeit, Risikopatienten zu identifizieren, bevor Symptome auftreten.“
Aleksander Krag, Odense (Dänemark), ein Mitautor der Publikation, betont: „Indem wir die Alpha-1-Antitrypsin-Akkumulation auf Einzelzellebene gemessen haben, konnten wir frühe molekulare Auslöser für das Fortschreiten des Alpha-1-Antitrypsin-Mangels identifizieren. Das könnte die Grundlage für die Verbesseerung von Therapien für Patienten sein."
Auch eine Idee für eine mögliche Therapieoption haben die Autoren im Rahmen der Diskussion ihrer Studienergebnisse festgehalten: Ihrer Ansicht nach könnten PPAR-α-Agonisten wie Fibrate, die die Peroxisomlast in der Leber erhöhen, vielversprechende Kandidaten für die Behandlung von Patienten mit spät diagnostizierter fortgeschrittener Leberfibrose aufgrund eines Alpha-1-Antitrypsin-Mangels sein (PPAR-α: peroxisome proliferator-activated receptor alpha).
Quelle: Pressemeldung „Alpha-1 Antitrypsin-Mangel: Was schützt die einen – und die anderen nicht?“ vom 17.04.2025, herausgegeben vom Max-Planck-Institut für Biochemie, Martinsried/Planegg